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Jörg Kantel
25. 09. 2002

Archäologie des Bloggens

Ein erster und unvollständiger Versuch, dem »Phänomen Weblog« mittels einer Geschichte seiner einzelnen Teile näher zu kommen

Computerspiele

Es muß Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gewesen sein. Jede Nacht bevölkerte eine Gruppe von Mathematikstudenten den Rechnerraum des Fachbereichs. Es wurde Adventure gespielt (in der Ur- (sprich Text-) Form). Neben dem Spaß, den das alles machte, war uns klar, dass hier etwas völlig Neues entstanden war, etwas, was nur mit dem Computer gemacht werden konnte.

Abenteuerspiele sind eng mit dem Computer verknüpft. Obwohl sie prinzipiell auch ohne Computer spielbar sind und auch gespielt werden, macht den eigentlichen Reiz erst der Computer als Spielpartner aus. (Meines Wissens sind Abenteuerspiele ohne Computer ein spin-off von Abenteuerspielen mit dem Computer.) Sie sind das erste und bisher einzige eigenständige Genre, das der »Computer als Medium« hervorgebracht hat. Er ist ein geheimnisvoller und zugleich objektiver und unbestechlicher Spielpartner — niemand, außer dem Programmierer vielleicht, kann ergründen, was in ihm vorgeht.

Das Geheimnisvolle daran war: Je nachdem, was man während des Spieles eintippte, nahm das Spiel einen anderen Verlauf. Man konnte in einer Höhle rechts weitergehen oder links, man konnte einen blutrünstigen Zwerg angreifen oder man konnte vor ihm flüchten, man durfte ein Monster füttern oder es töten. All dies hatte Einfluss auf das weitere Spielgeschehen.

Später, mit Zack McKracken oder Leisure Suit Larry wurde das Spielprinzip graphisch verfeinert. Millimeterweise, Reihe für Reihe, wurde ein Bildschirm mit der Maus angeklickt, immer auf der Suche nach einem verborgenen Link.

Denn das war es nämlich: Jede Verzweigung war ein Link und nie wußte man, was sich dahinter verbarg: ein Schatz, eine Falltür oder ein tödliches Monster.

Hypertext

1987 kam Apples HyperCard auf dem Markt. Es war ein ganz neues Programm, etwas, das völlig abseits der gewohnten Textverarbeitung und Tabellenkalulation lag, etwas das entfernt an eine Datenbank erinnerte, aber mehr konnte, als nur Adressen und Telphonnummern zu sammeln. Im Prinzip bildete HyperCard den gewohnten Karteikasten nach, Karte wurde auf Karte gelegt und jede Karte war anders beschriftet. Neu war aber, dass man auf jeder Karte einen Link zu einer beliebigen anderen Karte im Stapel oder auch zu einem anderen Stapel legen konnte. So konnte man von einer Literaturkartei einen Link zur Adresse des Autors in der Adresskartei legen, von einer mathematischen Formel auf eine Zeichnung der Funktion verlinken, usw.

Obwohl ursprünglich HyperCards Linkfähigkeit auf Rahmen beschränkt war, wurde bald findig diese Beschränkung umgangen. Unzählige Artikel zeigten, wie man mit Hilfe eines unsichtbaren Rahmens Links in Texte legte. Und Apple hatte ein Einsehen. Ab der Version 2.0 konnte HyperCard auch Textlinks.

Doch in den im Vergleich zum World Wide Web eigentlich recht übersichtlichen Strukturen tauchte zum ersten Mal ein Problem auf. Während es im Computerspiel durchaus erwünscht war, dass der Spieler sich verirrte, sollte es in einer Hypertext-Anwendung nicht passieren. Der Begriff Lost in Cyberspace tauchte auf und wurde problematisiert. Zahllose Strategien wurden ersonnen, um dem Besucher Navigation und Übersicht zu ermöglichen. Das war die Geburtstunde Jakob Nielsens (HyperText und HyperMedia, AP 1990) als Usability-Guru.

HyperCard hatte zahlreiche Nachahmer (auch auf dem PC), Tcl/Tk war der erfolgreichste. Hypertext wurde für einige Jahre das Modewort, literarische Hypertext-Experimente wurden durchgeführt, Kongresse und Workshops veranstaltet und viel Papier vollgeschrieben.

Einen Nachteil gab es jedoch. HyperCard und die meisten seiner Nachfolger waren nicht Multi-User-fähig. Und sie liefen immer nur auf einem Rechner. Auch stellte sich die gewünschte Revolution im Rezeptionsverhalten von Texten nicht ein. So starben die meisten HyperCard-Clones und auch HyperCard selber. Erfolgreichere Nachfoger mutierten zu HyperMedia-Entwicklungs-Werkzeugen, wie etwa Asymetrics Toolbook und Macromedias Director.

Das World Wide Web

Seltsamerweise löste die Entwicklung des Word Wide Web bei weitem nicht die Begeisterung aus wie die Entwicklung der ersten Hypertext-Werkzeuge. Meines Wissens erkannte zuerst nur Peter Gloor (Elements of Hypermedia Design, Basel 1997) die erweiterten Möglichkeiten dieses neuen Mediums und versuchte, seine HyperCard-Anwendungen auf das Web zu übertragen.

Ansonsten wurde das Web erst einmal als Möglichkeit gesehen, seine Arbeiten in der herkömmlichen Form zu publizieren. Links fanden nur in der Form von Fußnoten statt. Oder man hängte ans Ende der Datei eine Linkliste, ähnlich einer Bibliographie. Ängstlich versuchte man, das Gewohnte in das neue Medium hinüberzuretten. Das Publizieren in einer anderen als der Papierform war den meisten schon Revolution genug.

Hier musste erst noch ein weiterer Entwicklungsstrang hinzukommen, um das Medium wieder voranzubringen.

Alternative Medien

Die Freiheit der Presse gehörten denen, die eine besitzen. ( A.J. Liebling)

Seit der Erfindung der Buchdruckerpresse (und vermutlich schon davor - aber es gibt keine schriftlichen Belege ;->)gab es immer wieder Versuche, das Medium der herrschenden Klasse zu entreißen und selber zu nutzen. Teilweise - gerade in der Geburtsphase eines neuen Mediums - durchaus mit Erfolg. Die Reformation wäre nicht möglich gewesen ohne die gedruckten Ausgaben der Luther-Bibel, das erste Massenmedium überhaupt. Auch in den »Flegeljahren« des Kinos und des Radios gab es viele Anstrengungen, diese Medien durch eine breite Öffentlichkeit zu nutzen. Letzendlich sind alle diese Versuche gescheitert. Der Grund des Scheiterns ist in der Regel in der fehlenden Aneignung der Produktionsmittel zu sehen. Um eine Zeitschrift zu drucken, braucht man mindestens eine Offset-Druckerei, um ein Video zu produzieren, ein Video-Studio. So reduzierten sich alternative Zeitschriften auf photokopierte Fanzines, ein emanzipatorisches Video wurde in das Ghetto des offenen Kanals verbannt.

Wo die (finanziellen) Aufwendungen für die Produktion eigener medialer Inhalte gering war, griff der Staat als ideeller Gesamtkapitalist ein. Freies Radio wurde kurzerhand reguliert und verboten. Und auch dort, wo ein Printmedium allen Widrigkeiten zum Trotz einen gewissen Erfolg und eine Stammleserschaft erreichte, schlug der Staat zu: Die Radikal und ihre Macher wurden zensiert, kriminalisiert und schließlich verfolgt.

Und nein, die TAZ ist kein Beispiel für eine erfolgreiche Alternativpresse. Um zu überleben, mußte sie alles »Alternative« ablegen und sich in den herkömmlichen (Herrschafts-) Strukturen einrichten.

Rhizome und Netzwerke

Schon Ende der 70er Jahre entstand die Idee, sich anders als in den als herrschaftsfördernd und starr empfundenen hierarchischen Organisationsformen herkömmlicher politischer Gruppen und Parteien zu organisieren. Der Begriff des Rhizoms oder Netzwerkes machte die Runde. Und sie waren durchaus erfolgreich. Das von der Berliner Alternativen Liste initiierte Netzwerk Selbsthilfe hat bis heute überlebt. Kleine unabhängige Gruppen standen in losen organisatorischen Kontakten zueinander, wirkten lokal, traten aber bei Bedarf als eine Interessenvertretung auf. Dieses Modell wird gerade erfolgreich von attac wieder aufgegriffen.

Die Mailboxszene war natürlich eine ideale Kommunikationsform für diese Form der Organisation. Neben eher technisch orientierten Netzen wie Mausnet oder FidoNet traten auch bald politische Netze an, von denen das bekannteste Linksnet war. Es war ausdrückliches Bestreben der Macher von Linksnet, einzelne pollitische Gruppen miteinander zu verlinken.

Jetzt aber endlich: Blogging

Fasst man all diese Wurzeln zusammen, dann fehlte nur noch eines, um so etwas wie Weblogs als Medium zu gebären. Ein einfacher Zugang zum Web, weitestgehend unbeschwert von technischem Fachwissen und Computerchinesisch. Und der war mit den Weblogtools wie Blogger, Manila, Radio UserLand oder Movable Type (um nur einige zu nennen) gegeben.

Und es war in meinen Augen nahzu folgerichtig, dass Weblogs in ihrer ursrpünglichen Form als kommentierte Linkverzeichnisse angelegt wurden. Und der Link ist kein Anhängsel (in Form einer Fußnote oder eines Literaturverzeichnisses) mehr, sondern integraler Bestandteil des Textes. Viele Beiträge in Weblogs lassen sich nur verstehen, wenn man dem Link folgt und dann (vielleicht) wieder zu dem Blog zurückkehrt. Vielleicht folgt man aber von dem Link aus weiteren Links und begibt sich so auf eine eigene Datenreise, bei der das besuchte Blog nur noch der Ausgangspunkt ist. Das ist beabsichtigt, Weblogs sind kein lineares Medium, das von unten nach oben (resp. von oben nach unten) und von rechts nach links gelesen wird.

[Exkurs]: Stellen wir uns einmal vor, jemand käme auf die Idee, zu allen Songs aus Woody Allens Film Radio Days ein paar Links zu sammeln. Zum Song selber, zum Komponisten, zum Texter und zu den Interpreten. Innerhalb kürzester Zeit hätte er eine Kulturgeschichte der 40er Jahre zusammengestellt. Doch im Gegensatz zur üblichen (gedruckten) Kulturgeschichte wäre sie etwas Neues. Dem Leser ständen sämtliche Quellen, mit denen auch der Autor arbeitete, zur Verfügung, und dem Leser blieben Auswahl und Interpretation überlassen. Und der Leser kann sich weitere Quellen ergoogeln. (Zum Einfluß, den die Suchmaschinen und hier speziell Google auf die Entwicklung der Weblogs hatten und haben, steht hier nichts. Ohne Zweifel gibt es ihn und ohne Zweifel ist er groß. Jedoch steht mir darüber kein empirisches Material zur Verfügung.) [Ende Exkurs].

Wie beim Abenteuerspiel weiß der Leser eines Weblogs nie richtig, auf was er sich einläßt. Der Link kann ernsthaft gemeint sein, spaßig oder bewusst in die Irre führen. Im Gegensatz zur traditionellen Presse trauen Weblogger ihren Lesern eine große Medienkompetenz zu, in anderen Worten: Weblogautoren halten ihre Leser für mindestens so schlau, wie sie selber sind.

Bloggen ist billig: Einen Webhoster findet man schon für ein paar Euro im Monat, viele Weblog-Tools sind umsonst, andere kosten, aber auch nicht die Welt. Die technischen Hürden zum eigenen Blog liegen niedrig. Vorgefertigte Templates und browserbasierte Texteingaben ermöglichen unbeschwertes Bloggen. In der Regel hat man seinen ersten Eintrag nach wenigen Minuten verfaßt.

Weblogs bilden ein Geflecht. Warum das so ist, ist mir auch noch nicht so ganz klar geworden. Ist es der Wunsch nach Community oder sind es tatsächlich gleiche Interessen, die das gegenseitige Lesen und Verlinken fördern? Auf jeden Fall entsteht ein selbstorganisiertes Netzwerk. Niemand kann Lesen und Verlinken erzwingen.

Weblogs sind (noch) keine Alternative zum herkömmlichen Journalismus. Sie sind in der Regel Zweitverwerter, sie verbreiten Nachrichten, sie verlinken auf Nachrichten, die irgendwo schon einmal publiziert wurden. Aber die Grenzen sind fließend. Ein paar eigenen Berichte hat nahezu jedes Blog und es wird damit zum Produzenten von Nachrichten, auf die andere Blogs verlinken.

Thomas N. Burg stellte ähnliche Überlegungen zum Mehrwert eines Blogs an. Er verglich Bloggen mit der Arbeit eines Disk-Jockeys. Und ähnlich wie ein DJ verhandenen Ressourcen (LPs, Singles, CDs) verwendet und durch Zusammenstellung und Kommentierung Mehrwert in Form von Information addiert, verfährt auch ein Blogger. Und eine solche Kompilation ist immer auch eine Metainformation: »Ich denke, dass daher der Weblogger als ursprünglicher Zweitverwerter zum Information-Broker wird und damit einen genuinen Mehrwert generiert. Letzlich befinden wir uns in einer Zeit (eigentlich schon in den 70er Jahren als Posthistoire diagnostiziert), in der Metainformation beinahe einen höhreren Stellenwert als Information hat. Das mag daran liegen, dass wir der Information nicht trauen und daher einen Filter benötigen. Es mag aber auch an der großen Fülle, damit der Nicht-Verfügbarkeit ebendieser liegen.«

Weblogs sind schwer zu zensieren. Zwar kann man einzelne Blogs durchaus dicht machen, aber die Nachrichten, die dieses Blog in die Welt gesetzt hat, sind schon mehrmals vervielfacht, verlinkt und zitiert und leben außerhalb des zensierten Blogs weiter. Und nicht zuletzt würde jeder Versuch, ein Blog staatlicherseits dichtzumachen, eine Solidaritätswelle provozieren, die die zu unterdrückenden Nachrichten erst recht bekannt machen würde.

Flegeljahre eines Mediums

Das Internet befindet sich aber noch in seinen Flegeljahren und sucht noch seine Form. Gefahren der Kommerzialisierung und der Gleichschaltung sind ebenso real wie staatliche oder gesellschaftliche Einflussnahmen. Aber auch seine ästhetische Ausprägung hat das World Wide Web noch nicht gefunden. Weblogs sind zwar so etwas wie das erste eigenständige Genre, das das Web hervorgebracht hat, aber sie werden nicht das einzige Genre bleiben, und sie werden sich verändern. Das Kino ist schließlich auch nicht beim Stummfilm stehengeblieben.

Wir sind auf dem Weg in eine neue und hoffentlich spannende Medienzukunft. In diesem Sinne: Keep on bloggin'!



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